Nachrichten aus Riesi(Auszug aus dem Mitteilungsblatt) |
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Zweimonatliches Bulletin des Servizio Cristiano Waldenser-Institut
Nr. 4-5, Juli/Aug. + Sept./Okt. 2011 – 50 Jg./244
«Fürchte Dich nicht, liebes Land, sondern sei fröhlich und getrost;
denn der HERR kann auch große Dinge Tun.»
Joël, 2.21
Liebe FreundInnen, ein neues Jahr beginnt, denn hier bei uns ist der Jahresbeginn nicht am 1. Januar, sondern fällt mit dem Beginn unserer Aktivitäten und dem Anfang des Schuljahres im September zusammen.
Eigentlich haben wir durchgehend
gearbeitet und nicht einmal im August eine Pause
eingelegt, obwohl das in Italien so üblich ist.
Da hatten wir nämlich zwei äußerst
sympathische Gruppen aus Schweden (von Wojje
Nedzewic geleitet, der gerade erst Vater des
kleinen Luca Alessandro geworden ist) und von
Deutschland (von Claudius Rück geleitet, der mit seiner
sympathischen Art und Energie den Aufenthalt seiner
Gruppe zu einem tollen Erlebnis hat werden lassen) zu
Besuch.
Zudem haben wir Einzelreisende und Familien verschiedenster Herkunft beherbergt. Die Öffnung des Servizio Cristiano im August bestätigt, dass es möglich ist, die Fremdenherberge das ganze Jahr zu öffnen, ganz im Sinne evangelischer Gastlichkeit, die keine Öffnungszeiten kennt. Man muss sich nur richtig organisieren.
In der Tat, die Herausforderung, der wir uns stellen müssen, liegt genau auf der Linie der neuen Organisation: es gilt, neue Wege zu beschreiten, um alle unsere Gäste würdig zu empfangen, neue Wege, um die Kinder von Riesi in ihrer Schullaufbahn am Servizio Cristiano zu begleiten, neue soziale Strategien, um erfolgreich die Vernachlässigung, die Gewalt und die lsolierung zu bekämpfen.
So gehen wir in ein neues Jahr, wohl wissend, dass jede Erfahrung, die sich vom Bisherigen unterscheidet, erst ge- und erlebt werden muss, bevor sie beurteilt werden kann. Ja, jede neue Gelegenheit kann gar nicht anders als schön sein, weil sie uns hilft, neue Erfahrungen zu sammeln. Neues, das auf den ersten Blick negativ war und unsere Kräfte auf eine harte Probe gestellt hat, hat immer ein gutes Ende gehabt, die Arbeitsgruppe gestärkt, und uns ermöglicht, kreativ neue Formen der Aktion und des Zusammenseins zu entwickeln.
Dies war und wird nicht immer möglich sein; ab und zu werden wir sicher schmerzhafte nötige Schritte unternehmen müssen, um würdig mit neuem Schwung in die Zukunft zu gehen.
Italien ist heute ein Land mit vielen Problemen und beherbergt viel Unsicherheit und Besorgnis, eine Tatsache, die daraufhinweist, wie weit die Unfähigkeit der Politiker und der Regierung reicht, die leider bis heute unser Land in der Welt vertritt.
Wir möchten hier unseren FreundInnen sagen, dass Italien nicht gleich Berlusconi ist.
Italien ist ebenso wenig nur Bestechung in der öffentlichen Verwaltung.
Italien ist auch nicht nur die Ausbeutung der Frau als barbarisches Objekt einiger Machthaber.
Und Italien ist sicher auch nicht das der fragwürdigen Fernsehübertragungen, die man sehen kann.
Der Servizio Cristiano versucht in seinem täglichen kleinen oder großen Einsatz, die Dämme zu errichten, die dem Abdriften der Gesellschaft, was man ihr aufzwingen möchte, Einhalt gebieten.
Unsere Hoffnung ist, dabei nicht alleine zu sein, wenn wir mit den Letzten Siziliens und Riesis ein würdiges Leben teilen wollen.
Dies ist die Dimension der Agape, der Liebe, auf die wir nicht bereit sind, zu verzichten. In diesem Sinne, auf ein Neues.
Der positive Trend hat sich auch in den Einschreibungen für das Schuljahr 2011/12 bestätigt, welche die Marke von 160 Kindern in Kindergarten und Grundschule überschritten haben, was ja im vorigen Jahre nur knapp verfehlt wurde.
Diese Zahlen sind Ausdruck des Vertrauens in uns alle, Vertrauen in diejenigen, die hier in Riesi leben und arbeiten, in Euch alle, die Ihr diesen Rundbrief lest und uns helfend zur Seite steht, überall in der Welt.
All dies ist eine Bestätigung für unser Handeln, das es den Kleinsten erlauben soll, nicht vom Strudel der Lähmung und des Schweigens ergriffen zu werden, der hier zur Wirklichkeit gehört.
Dieses Vertrauen hinterfrägt uns auch und fordert uns auf, jeden Tag über unser Handeln und die Beweggründe, eine Schule zu führen, Rechnung abzulegen.
Wir wollen keine Superhelden sein und sind es nicht. Wir müssen uns jedoch bewusst sein, dass der Unterricht an Kindern keine Arbeit wie jede andere ist, sondern eine Mission.
Wir sind der Meinung, der Unterricht sei eine universale, evangelische Mission. Wir alle haben die Gnade Gottes umsonst empfangen und können deshalb nicht untätig vor unseren erzieherischen Verantwortungen stehen bleiben.
Die Region Sizilien streicht weiterhin die Geldmittel für den Lehrbetrieb zusammen. Die Stadtgemeinden tun, was sie noch tun können, aber sie können immer weniger tun.
Die Alternative für ganz viele Kinder wäre die Unmöglichkeit der Bildung, die doch ein Grundrecht darstellt. Wir sehen, was geschieht; ja, es ist zum Greifen nah, und deshalb arbeiten wir, damit das Recht auf Bildung nicht zu einem Privileg für wenige wird.
Wir haben die Räume der Schulen renoviert, die Ausstattung mit Lehrmitteln verbessert und die Arbeiten am Speisesaal begonnen.
All dies aber reicht nicht aus; das wissen wir. Deshalb haben wir mit Beginn dieses Schuljahres zusätzlich die Fortbildung des Personals angefangen.
Mehr Ausstattung heißt nicht nur neue Möbel, Tafeln, Computer usw., es heißt auch, dem Personal kulturelle Fähigkeiten zu geben, Fähigkeiten, die beim Lehren und in der Kommunikation helfen, Fähigkeiten, die uns zum Dialog zwingen und uns das Gesetz der Verschiedenheit aufdrängen, das für uns unerlässlich ist, um uns Servizio Cristiano nennen zu können.
Deshalb arbeiten wir auch in der Schule mit den Freiwilligen, die aus dem Ausland kommen, aber auch mit Eltern und mit Personen mit entsprechenden Berufen zusammen.
Theater- und Musikgruppen sind heute in den Händen kreativer Männer und Frauen aus Riesi, die uns kostenlos unterstützen und mit uns die Ehre teilen, die Kinder aufwachsen zu lassen.
In diesem Jahr werden sich um die mehr als 160 Kinder folgende Personen kümmern: Peppe Debilio (Sekretär), Rosalia Baldi (Kontaktperson), Rita Gammacurta, Marisa Zuccalà, Marinella Puglisi, Giusi Anzaldi, Lina Bilardi, Silvia Miccichè.
Überall Farbspritzer, was für eine Katastrophe! So haben sich uns die Räume in der Via Primo Maggio nach der Sommerpause präsentiert. Beim Hobeln fallen Späne. So haben alle MitarbeiterInnen dieser Dienste mit viel Geduld gearbeitet, um die Räume wieder wohnlich erscheinen zu lassen.
Der gute Peppe Bastile, verantwortlich für den Unterhalt, hat die Malerarbeiten, die Arbeiten an der Heizung, an der Eingangstür und vieles andere geleitet, um das Gebäude wieder funktionsfähig zu machen.
Dank einer großzügigen Gabe und der Freundschaft der westfälischen Landeskirche, die anlässlich der 50-Jahr-Feier des Servizio Cristiano ihren Willen kundgetan hat, diese diakonische Einrichtung in Sizilien weiterhin zu unterstützen, haben wir endlich ein neues Ultraschallgerät, das seinen Dienst für die Bevölkerung Riesis tun wird.
Dieses Gerät ist notwendig für das von uns durchgeführte Screening sowie für die gynäkologische und allgemeinmedizinische Arbeit. Es ist ein modernes und sehr zuverlässiges Gerät, das den Bedürfnissen derer, die ärztliche Hilfe brauchen und oft nicht das nötige Geld haben, vollkommen gerecht wird.
Denn dies ist der Sinn unserer Arbeit im Gesundheitsbereich. Wir bewegen uns voller Stolz außerhalb der Marktlogik, welche die Patienten zu Kunden degradiert und ärztliche Hilfe als handelbare Ware betrachtet. Wir müssen keine Berufsgruppen verteidigen und keine Privilegien vertuschen.
Wir kennen die dramatische Lage der Armen, die dringend ärztliche Hilfe brauchen, all derer, die allein sind und nicht wissen, wie sie die Therapien bekommen können, die sie so dringend brauchen, und derer, die sonst eine Reise der Hoffnung unternehmen müssten, um eine lebenswichtige Diagnose zu erhalten.
Wir kennen sie, und wenn wir ihnen helfen, schützen wir auch ihre Privatsphäre. Auf diese Weise möchten wir allen die Würde zurückgeben, die ihnen so oft entzogen wird, weil Gefälligkeiten zur Regel werden, und weil die Verlängerung der Wartezeiten zum Vorzimmer des Endes wird.
Wir alle brauchen Mut, vor allem die MitarbeiterInnen dieses Dienstes, damit sie nicht kapitulieren, den Versuchen der Denunziation nicht erliegen, den Versuchen der Verunglimpfung, die uns in Riesi ausgrenzen will.
Einsatz und Mut. Auch Unterstützung. Sicher, auch finanzielle Unterstützung, aber nicht nur. Uns gegenseitig zu unterstützen, heißt, sich fur die Probleme zu interessieren, Riesi zu besuchen, uns per Brief Eure Nähe auszudrücken.
Oft erreicht man mit wenigen Worten mehr als mit tausend Reden. Schließlich sind wir zum Handeln gerufen durch das eine Wort, das Christus den Fischern am See sagte: Folgt mir nach.
Deshalb laden wir alle ein, uns zu “folgen” die Entwicklung unserer Arbeit zu verfolgen und uns hier in Riesi aufzusuchen. Im übrigen hat die 50-Jahr-Feier gezeigt, dass Riesi nicht so weit entfernt liegt, dass es nicht erreichbar wäre.
Der Servizio Cristiano hat die Einladung des Bürgermeisters von Riesi, Salvatore Buttigè, angenommen, sich den BürgerInnen vermehrt zu präsentieren. Während der 50-Jahr-Feier hatte der Bürgermeister diese Einladung ausgesprochen, eine schöne Einladung, voller Leidenschaft vorgetragen, die wir nicht ins Leere fallen lassen wollen.
Wir wollen unseren Teil voll erfüllen, und dies in der Hoffnung, dass die Institutionen auch ihren Teil dazu beitragen, oder gar mehr.
Riesi erwartet, dass die Institutionen ein Beispiel geben, dass sie versuchen, etwas über die Haushaltszwänge und die Sorgen hinaus zu tun, die oft als Ausrede gesehen werden.
So ist der Schuljahresbeginn am 27. September mit einer öffentlichen Ansprache gefeiert worden. Der Titel: “EIN HALBES JAHRHUNDERT IM EINSATZ FÜR DIE ERZIEHUNG DER KINDER IN RIESI”: An diesem Festakt haben teilgenommen: Prof. Paolo Ricca (Theologe, emeritierter Professor der Waldenserfakultät in Rom), Giuseppe Miccichè (Schulleiter), Prof. Giovanni Lombardo (Schulleiter in Rente und Mitglied des Exekutivkomitees des Servizio Cristiano).
Dann findet am 19. Oktober ein Vortrag von Prof. Sergio Rostagno (emeritierter Professor der Waldenserfakultät in Rom) zum Thema “Christentum und Demokratie” statt, zu dem Pastor Giuseppe Ficara die einleitenden Worte sprechen wird.
Diese Aktivitäten des Servizio Cristiano finden in den Räumen der Waldenserkirche von Riesi statt, um auch damit den Willen zu unterstreichen, den BürgerInnen entgegenzukommen und nicht abzuwarten, dass diese bis zu uns kommen.
Dieses Jahr sind zehn Freiwillige im Servizio Cristiano präsent. Jedes Jahr machen wir uns tausend Sorgen: Wie wird die Gruppe sein? Werden sie sich in Riesi wohlfühlen? Und untereinander? Werden sie uns in der Arbeit helfen oder die Arbeit komplizierter machen?
All das sind Fragen, die aufgrund der Erfahrungen aus der Vergangenheit in uns aufsteigen, aus den schlechten und destruktiven Erfahrungen, die teilweise die Personen gegeneinander aufgebracht haben, anstatt Beziehungen zu schaffen. Diese Fragen stellen wir uns auf menschliche Weise, ohne unsere Schwierigkeiten aber auch unsere Erwartungen zu verschweigen. Dabei nehmen wir auch Rücksicht auf die Erwartungen, welche die jungen Menschen, die sich Jahr für Jahr entschließen, einen langen Zeitraum ihres Lebens in Riesi zu verbringen.
Der Freiwilligendienst wandelt sich ständig. Die Gesetze, die ihn auf staatlicher und europäischer Ebene regeln, lassen ihn in stetigem Wandel sein. Aber auch die Organisationen, welche die Freiwilligen nach Riesi entsenden, ändern sich. Mitten in diesen Änderungen befinden wir uns hier im Servizio Cristiano. Viele Faktoren spielen dabei eine Rolle, ob der Freiwilligendienst ein tolles Erlebnis wird oder aber langweilig und frustrierend ist. Jedes Jahr sind wir Zeugen, wie neue junge Menschen zu uns kommen, mit ihnen viele Erwartungen, ab und zu auch Gleichgültigkeit, wenn nicht gar Desinteresse. Es ist nicht immer leicht, an der Dynamik in der Freiwilligengruppe zu arbeiten, die sich in die Gesamtdynamik des Servizio Cristiano einbettet. Es ist nicht leicht gewesen, Schwierigkeiten der Vergangenheit, Unverständnis und Auseinandersetzungen aufzuarbeiten. Teilweise schmerzhafte Verletzungen haben Narben hinterlassen. Aber vor allem wollen wir all denen unsere Anerkennung ausdrücken, die sich für kurze oder lange Zeit in Riesi aufgehalten haben. Mit ihrem Einsatz haben sie uns alle gestärkt und unsere Erfahrungen bereichert. Die Gruppe dieses Jahres hat von Anfang an einen positiven Willen zum Dialog und zur Zusammenarbeit gezeigt. Ja noch mehr, sie hat uns allen eine Lektion über die authentische Deutung des Verbs “zusammenarbeiten” gegeben.
Zusammenarbeit nicht als Konzession, fast als Bettelgabe, des Überflüssigen. Diese jungen Menschen haben gezeigt, dass Zusammenarbeit bedeutet, die Dinge zusammen zu erledigen: deine Anstrengungen werden zu meinen, deine Arme unterstützen meine, wenn sie sich müde fühlen. Diese Zusammenarbeit braucht keine Anfrage! Sie funktioniert einfach aufgrund der Aufmerksamkeit für den anderen. Diese jungen Menschen haben in den ersten Wochen gezeigt, dass der andere nur dann in meinem Sinn gegenwärtig ist, wenn er in meinen Absichten anwesend ist und ich ihn oder sie nicht um Hilfe zu bitten brauche.
Zusammenarbeit ist nicht eine Frage, auf die jeder die Antwort gibt, die er oder sie will. Zusammenarbeit ist eine Haltung, die mit dem Willen, den ich habe oder nicht habe, die Arbeit des Anderen zu sehen, als ob es meine wäre. Zusammenarbeit ist eine Haltung, die nicht missbraucht und sich nicht missbrauchen lässt, nur weil der Andere weniger arbeiten will.
Zusammenarbeit ist eine evangelische Haltung, zusammen das Netz für den Fischfang zu ziehen, zu dem wir alle berufen sind, ist die fünf Brote und zwei Fische des Gleichnisses zu suchen, sich hinzusetzen, um sie zu verteilen, das gemeinsame Brot brechen.
Zusammenarbeit ist eine menschliche Haltung.
In dieser Gesellschaft, die nur aus Individuen besteht, die sich auf das Fernsehen stützt, ist Zusammenarbeit ein aufeinander Zugehen, wo auch immer der Andere sich befindet: auf dem Feld, um Oliven zu sammeln, in den Toiletten der Schulen, die voll von Müll sind, im Büro mitten in einem Berg von Rechnungen, während das Telefon wie verrückt klingelt, auf dem Dach, um ein Loch zu flicken, durch das Regenwasser ins Gebäude eindringt.
Bislang hat die Gruppe uns allen dies gelehrt, und sie hat es mit Einfachheit getan, ohne es hervorzuheben, in aller Stille. Es sind dies: Lea Eckhoff, Immo Janssen, Franziska Steudel, Christopher Zeyer, Markus Altrichter, Felix Taylor, Karoline Hasselgruber, Isa Hölldobler, Hanna Fischer. Wir sind dafür dankbar, nehmen sie gerne auf und hoffen, dass trotz der Schwierigkeiten dieses Jahr der Anfang einer schönen und langen Freundschaft mit dem Servizio Cristiano ist.
oben von links nach rechts: Isa, Hanna, Franziska, Lea, Karoline
untern von links nach rechts: Felix, Immo, Christopher, Markus
AASR — Associazione Amici Svizzera Riesi
(Verein der Schweizer Freunde des Servizio Cristiano – Riesi)